Ohne Dich – Teil 2

Einsamkeitsgefühle als Chance

Im ersten Teil meiner „Geschichte“ habe ich Einsamkeit als Problem beschrieben, als Mangel, als allgemeines Unwohlsein, als Unvollkommenheit, durch dass sich früher oder später die Einsicht nach Veränderung breit macht. Egal, wohin wir schauen, Einsamkeit ist genauso wie Krankheit, Alter, Depression, Armut – ein unbeliebtes Zeichen von Mangel und Schwäche und etwas, dass nicht in unseren Zeitgeist mit den spezifischen Anforderungen nach polierter Oberfläche und Leistung passt. Im Allgemeinen sollen wir unsere Leistung präsentieren: Männer sollen viel verdienen und möglichst wenig Krankheitstage haben. Frauen sollen über ihre Doppelbelastung bitte nur lächeln und als perfekte, aufopferungsfähige Mütter leben. Jammern ist nicht erlaubt in dieser Gesellschaft. Wer jammert oder klagt, ist raus aus dem Spiel.

Daher wollen wir Einsamkeit um jeden Preis vermeiden, wir fühlen ja, dass es eine Schwäche ist, die man lieber verbirgt. Ohne je wirklich über die Bedeutung der Einsamkeit oder die Rolle der Entfremdung des modernen Menschen in einer (bisweilen kranken) Zivilisation nachzudenken, schämen wir uns vielleicht für die Einsamkeit und denken heimlich, dass es allein unsere Schuld ist.

Solche Gedanken führen aber zwangsläufig in eine größere Depression, vor allem wenn man sie nicht aktiv verarbeitet, sondern ständig verdrängt. Ich denke, dass in der Einsamkeit auch eine Chance liegen kann und sie nicht per se nur als Mangel anzusehen ist. Wer diesen Schritt gedanklich durchlaufen kann, kommt einen großen Schritt im inneren Reifungsprozess vorwärts. ((im Idealfall kann man diese psychologische Entwicklung mit einer religiösen Weltanschauung kombinieren; das ist einerseits hilfreich um die Motivation der Übung aufrecht zu erhalten und gibt darüberhinaus ein gutes Verständnis für die Gesamtheit der Existenz))

Zuerst müssen wir fragen, was wir uns mit dem zwischenmenschlichen Kontakt eigentlich versprechen, was er uns bedeutet und warum er uns so wichtig ist. Und dann, auf der anderen Seite überlegen, warum wir die Einsamkeit so hassen und was daran eigentlich so schlimm ist? Wollen wir mit der Abwehr von Einsamkeit eine Leere übertünchen, so wie mit gutem Essen oder Alkohol? Oder ist es ein tieferes Problem der falsch gelebten Lebens?

Die Einsamkeit hat auch viele Vorteile, z.B. finden wir uns nur in der Stille selbst. Reifung und Entwicklung ist meist eine Folge von aktiven Handlungen, die man hinterher für sich verarbeitet. Schreiben, Denken, Lesen- alle Tätigkeiten des Geistes erfordern Ruhe und Abgeschiedenheit. Oder wie Goethe schon sagte:

Es bildet ein Talent sich in der Stille, Sich ein Charakter in dem Strom der Welt. (Leonore 1,2)

Wenn Menschen aufwachsen und sich in der Phase des Säuglings und Kleinkinds befinden, werden sie – im Idealfalle- ständig umsorgt und umhegt. Der Urzustand des menschlichen Daseins ist die komplette Verschmelzung mit der Mutter. Wir bekommen von ihr Nahrung (aus ihrem Blut), Sauerstoff und Wärme. Unsere Augen sind geschlossen und wir müssen uns um nichts kümmern. Wir schweben, schwimmen in einem fast schwerelosen und geräuschgedämpften Raum. Es ist wie ein Paradies und die Geburt nach neun Monaten wie eine Vertreibung aus dem Paradies. Ab dann müssen wir lernen, jeden Tag ein Stückchen einsamer zu werden, bis hin zum Tod, nach ca. 80 Jahren (statistisch).

In der Kindheit mag noch alles glatt laufen und unsere Eltern übernehmen für uns die Pflichten. Wir bekommen Taschengeld, Nahrung, Unterkunft, Bildung, Spiel, Abwechslung, Erziehung und Prägung. Anderen kümmern sich um uns und achten darauf, dass wir uns gut entwickeln. Einsamkeit kennen wir nicht, da die, die auf uns aufpassen, eine Verantwortung für uns übernommen haben und durch das Band der Liebe eng an uns gebunden sind.

Irgendwann beginnt die Schulzeit. Es wird schwieriger, mit der Einsamkeit. Jetzt erleben wir wahrscheinlich die ersten echten Phasen der Enttäuschung, der Einsamkeit und des Verlustes. Unsere Eltern sind vielleicht beide berufstätig oder geschieden. Man hängt uns einen Schlüssel um den Hals und stellt das vorbereitete Essen in den Kühlschrank. Die Lehrer geben uns Hausaufgaben, die wir alleine erledigen müssen. Wenn wir jetzt nach jemand greifen wollen und uns innerlich über die Einsamkeit aufregen, sind wir alleine.

Aber genau in diesem Augenblick, wo man uns das erste Mal losgelassen hat, hat man uns auch etwas geschenkt: Verantwortung für uns selbst und Freiheit. Diese beiden Werte ersetzen im Wesentlichen das dumpfe und ungute Gefühl der Einsamkeit. Wir müssen akzeptieren, dass in gewissen Lebenssituationen unsere eigene Person genug ist und vor allem: genug sein muss. Später kommen unweigerlich alle Pflichten auf uns zurück und von da ab ist es vorbei mit Sentimentalitäten, so sehr wir sie uns auch wünschen mögen: Wir sind selbst dafür verantwortlich, wo wir leben, was wir arbeiten, wie wir uns ernähren, wen wir lieben, von wem wir geliebt werden, was wir erstreben, was wir glauben, was wir denken, wen wir wählen und was wir abends vorm Schlafengehen vom Tag noch fühlen.

Wir haben vielleicht die erste Mal in unserem Leben die Kraft, eine Freundschaft zu beenden. Oder schlimmer noch: Eine enge Partnerschaft. Das erste Mal in unserem Leben erleben wir die starke Trennung einer ehemals symbiotischen Einheit und werden dadurch unweigerlich an unsere Geburtstraumata erinnert. Auch wenn wir es mit dem Kopf beherrschen, so ist der emotionale Schritt doch jedesmal groß und eine Aufgabe.

Bei all der Stärke, die wir erlangen, wo ordnen wir jetzt die Einsamkeit ein und wie definieren wir unsere Identität im Wechselspiel mit den anderen, unseren Mitmenschen und Liebenden?

Akzeptiere deine Einsamkeit, nimm dich selbst als erwachsenen und reifen Menschen an, vergiss dabei aber nicht, dass der wahre Lebenssinn im Ausbau und der Verbesserung deiner mitmenschlichen Beziehungen und deiner „Attitude“ (also deiner Haltung zu ihnen) liegt. Du kannst diese Beziehungen niemals verbessern, indem du sie zahlenmäßig vergrößert. Du kannst auch nicht über den Umweg des Ruhms und der Berühmtheit erwarten, dass sich an deiner Person etwas zum Guten ändern wird. Eher wird dich viel Geld, Einfluss und Macht verderben und dich vom wesentlichen deines Menschseins abtrennen. Für positive Rückmeldung und Bestätigung ist der Mensch bereit, über Leichen zu gehen. Die Motivation, geliebt zu werden, mag eine der stärksten überhaupt sein und wird von den Sekundärmotivationen (Geld, Macht, Sex) nur überlagert und verschleiert.

Im Kern geht es um die Liebe. Um unsere Liebesfähigkeit. Um unsere Ehrlichkeit und die Fähigkeit, eine echte Verbindung zu anderen Menschen aufzubauen, die über eine oberflächliche hinausgeht. Es geht um stabile Beziehungen, die sich nicht nach kommerziellen oder beruflichen Abläufen richten.

Es geht einfach um viel.

Wenn du dich einsam fühlst, dann ist das ein Zeichen, dass dich deine jetzigen Beziehungen entweder nicht befriedigen oder: Du mit dem Gefühl der Einsamkeit falsch umgehst.

Denke immer daran, dass dich die Masse nicht glücklich macht. Es geht mehr um die Frage:
Wie bin ich auf andere bezogen?

Was gibt mir der Mitmensch? Warum sollte ich ihn lieben? Was kann ich für ihn tun? Was sollte ich lieber lassen?

Und frage dabei auch immer dich selbst. Was brauchst du? Was suchst du? Und worauf kannst du bewusst verzichten?

Genau wie jede andere Schwäche, die wir zuerst verdrängen und nicht länger wahrhaben wollen, kann sich auch die Einsamkeit wandeln und sogar als Freund und Wegweiser entpuppen. Sag einfach zu dir: ja ich bin anders als die anderen und finde das gut so. Ich bin gerne ein Außenseiter, weil das meine eigene Identität stärkt. Wer wirklich frei sein will, kommt nicht darum herum, die Einsamkeit zu akzeptieren und sich aktiv mit ihr auseinanderzusetzen. Du kannst keinen Menschen für ewig haben und auch Freundschaften unterliegen dem Lauf der Zeit. Da das Leben eben so ist, ist es ratsam, das frühzeitig zu verstehen und zu akzeptieren, auch wenn es sehr schmerzhaft ist und die Träume und Visionen vielleicht eine andere, unlogische Sprache sprechen.

Denke immer daran, dass deine ganze spirituelle und menschliche Entwicklung der Vertiefung und Erweiterung deines Selbst dient und die Einsamkeit nur eine Station von vielen auf diesem steinigen Weg ist.

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