Filmrezension: Berlin Calling

USK: ab 12

Was für ein Film! Und was für ein Zufall, dass er gerade gestern auf Arte gesendet wurde, zwei Tage, nachdem ich mir das Soundtrack-Mp3 Album auf Amazon zum halben Preis gekauft hatte…

Da ich die Musik von Paul Kalkbrenner sehr gut finde, war ich auf den Film mit ihm in der Hauptrolle natürlich sehr gespannt.

Um es vorweg zu nehmen: Er hat die großen Erwartungen nicht enttäuscht, sondern sogar übertroffen. Allerdings war ich über den traurigen Grund-Tenor doch sehr überrascht und hätte mir insgesamt mehr Musik gewünscht, denn darum geht es ja schließlich! Viele Tracks wurden nur kurz angespielt und ich hätte mir gewünscht, dass sie zu Ende gespielt worden wären oder einfach öfters vorgekommen wären. Der gesonderte Kauf der Soundtrack-CD kann also nicht schaden (zumindest nicht, wenn man Techno/ Trance Fan ist).

Inhalt
Die Handlung ist schnell beschrieben: Der Musiker und DJ Ickarus lebt mit seiner Freundin in Berlin und arbeitet an einem neuen Album. Dabei lässt er keine Party und keinen Auftritt aus und tummelt sich munter im Berliner Nacht- und Szeneleben. Durch den engen Kontakt mit einem Dealer bekommt er eine „schlechte Pille“ , also eine hochkonzentrierte MDMA-Pille, die noch zusätzlich mit giftigen Stoffen versetzt wurde.

Da Ickarus -als typischer Künstler- sowieso zu schizophrenen Schüben und anderen Wahnvorstellungen neigt, verstärken diese Pillen seine negative Charakterentwicklung. Nach ein paar peinlichen Auftritten in der Öffentlichkeit landet er schließlich in einem sozial-therapeutischen Zentrum und wird erstmal „temporär“ aufgenommen.

Seine Freundin Mathilde macht sich derweil große Sorgen um ihn und versucht, auf die Menschen in seinem Umfeld Einfluss zu nehmen. Da ist einmal die Musik-Managerin Alice, die den DJ stets unter Druck setzt und auf Grund seiner „Störungen“ sogar die ganze Promo-Tour und CD absagen will. Auch die Bekannte von Mathilde, Corinna, ist von Ickarus nicht besonders überzeugt und beginnt während seines Klinik-Aufenthaltes ein Verhältnis mit seiner Freundin.

In der Klinik scheint sich der DJ am Anfang wohl zu fühlen, so trifft er mit dem 19jährigen Zivi sofort auf einen Fan und auch mit den anderen Insassen kann er sich schnell anfreunden. Einzig die strenge Oberärztin und Professorin Dr. Paul beäugt ihn kritisch und ist sehr distanziert-kühl. Immerhin erlaubt sie ihm, dass er seinen Computer und Musikcontroller im Zimmer aufbauen kann, was ihm ermöglicht, am neuen Album weiterzuarbeiten. Zwischendurch lässt sie sich sogar die Musik von Ickarus vorführen, findet sie ganz gut, meint aber auch, dass sie „depressiv“ wäre.

Ickarus lässt sich von all den Entwicklungen nicht besonders beeindrucken. Als er eines Tages Langeweile bekommt, haut er kurzerhand aus der Klinik ab. In seinem Privatleben haben sich die Dinge mittlerweile zum Schlechten gewandelt: Er erfährt von der lesbischen Affäre seiner Freundin und dass seine CD ganz abgesagt werden soll. Daraufhin randaliert er im Büro der Label-Chefin.

In die Klinik will er freiwillig nicht zurück, aber die strenge Ärztin macht ihm schon bald klar, dass er nun (auf Grund weiterer Eskapaden und seines hohen Rückfallrisikos) zwangseingewiesen wird. Seine Medikamenten-Dosierung wird deutlich erhöht und versetzt ihn in einen sehr schläfrigen und müden Zustand.

Zwischendrin hat er Kontakt zu seinem Vater (ein Pfarrer) und seinem jüngeren Bruder, der sich „normal“ entwickelt. Von einer Mutter oder weiteren Geschwistern erfährt man nichts.

Da seine Freundin sich weiterhin für ihn ins Zeug legt, und die CD auch endlich fertig geworden ist, entscheidet sich seine Managerin am Ende doch, das Album zu veröffentlichen. Es wird ein großer Erfolg und erhält positive Kritiken. Ickarus kommt aus der Klinik frei. In einer Szene, bei der Freunde auf ihn zukommen und zusammen mit ihm koksen wollen, lehnt er ab und kippt deren „Stoff“ in ein Glas mit Cola.

Seine eigenen Tabletten, die ihn inzwischen immer müder und depressiver werden lassen, spült er ins Klo. Danach folgt eine Szene intensiver Licht- und Geräuscherlebnisse. Dennoch wird er wieder der Alte und beschließt, zusammen und unterstützt von Mathilde, auf Promo-Tour zu gehen. Mit Corinna söhnt er sich wieder aus.

Der Film beginnt und endet mit einer Flughafen-Szene.

Interpretation

Eigentlich hat der Film keine „besondere“ Handlung. Ähnlich wie die Musik von Kalkbrenner enthält er einen monoton-traurigen Unterton, der sich wie ein unsichtbares Band aus tiefen Frequenzen vom Anfang bis zum Ende zieht. Der Film zeichnet eine melancholische und desillusionierte Jugend, eine Szene, die sich von selbst innen aushöhlt und einzig der Party und den Drogen verschrieben hat. Dass das auf die Dauer nicht fürs Glück reicht, bringt er sehr deutlich herüber. Vor allem die Kritik an den chemischen Stoffen und „Stimmungsaufhellern“ tritt überdeutlich zu Tage. Auffallend ist hierbei die Parallele zwischen den illegalen Stoffen aus der Disco-Szene und den legalen, aber nicht weniger gefährlichen Psychopharmaka, die in der Klinik verschrieben werden. Eine künstlerische Seele, kranke, entfremdete Menschen und dauerhafter chemischer Konsum von irgendwelchen Stoffen sind die wesentlichen Hauptmotive von Berlin Calling.

Der empfindliche und künstlerische Mann in der Hauptrolle ist hierbei das Opfer und gerät auf Grund eigener Schwäche und Ziellosigkeit in die Mühlen der egoistischen Hauptfiguren, die ihn umgeben. Die Gute, aber auch starke und dominante Schulter an seiner Seite ist eindeutig seine Freundin. Die Konkurrentin, Chefin und „Feindin“ ist seine Managerin. Eine weitere Konkurrentin ist Corinna, die ihn sogar auf sexuellem Gebiet das Terrain streitig macht. Unter ständige Kontrolle und Aufsicht gerät er durch die strenge Ärztin.

Die männlichen Figuren sind in Berlin Calling eher schwach und defensiv besetzt: Der Vater als Seelenklempner, der brave und angepasste Bruder, die anderen kranken Männer in seiner Klinik. Der junge und naive Zivi. Der perspektivlose, HartzIV-beziehende Dealer.

Aber doch, oder gerade deswegen, schafft es Ickarus als Gewinner und Profiteur aus dieser schwierigen Situation zu erwachsen. Er steht einfach für seine Musik ein und für nichts anderes. Die Musik ist sein Glauben, der ihn am Leben hält und als eine Art Wegweiser durch den schwierigen Dschungel seiner rauhen Umgebung dient. Wenn er Musik macht, ist er glücklich. Wenn er Probleme hat, fängt er an, wie verrückt zu tanzen und wenn das Leben ihn langweilt, macht er kurzfristig eine Party. Seine kindliche Unbekümmertheit und seine verrückten Ideen sind seine Stärke.

Nicht er erscheint in diesem Moment als „der Kranke“, sondern eher die völlig emotionslose und auf persönlichen und kurzfristigen Erfolg gerichtete Umgebung. Die ganze Stadt scheint in diesem Sumpf gefangen zu sein. Außer ein paar Straßenszenen und kurze Ausschnitte aus (dreckigen) Diskotheken-Klos erfährt man über das stolze Berlin, das ja gleichzeitig Namensgeber ist, nicht soviel.

Der Film entstand nicht auf dem Höhepunkt einer pulsierenden und blümchenbunten Techno-Szene ((wie man sie vielleicht von den Loveparades in Erinnerung hat)) , sondern eher aus einer grau-depressiven Kater-Stimmung, die sich ein paar Jahrzehnte nach dem großen Techno-Hype breit gemacht hat. Und gerade dieser Mut, die Schattenseite der Spaßkultur ins rechte Licht zu rücken, macht ihn so authentisch. Vielleicht hat er es stellenweise sogar übertrieben. Die Musik hätte man ausbauen können. Und von den eigentlichen Disco-Auftritten gibt es auch viel zu wenig zu sehen. Für wahre Techno-Fans bietet er zuviel Zeigefinger und zuwenig „Kultur“.

Berlin Calling hypt die Szene nicht an einer glatt-polierten Oberfläche, er durchleuchtet sie bis auf die Knochen, offen und ehrlich.

Der Regisseur Hannes Stöhr führt dem Zuschauer die Oberflächlichkeit einer kranken und extrem kurzlebigen Gesellschaft knallhart vor Augen und spart nicht mit trauriger Dramaturgie und den Abgründen der menschlichen Seele.

Aber er versprüht auch Hoffnung. Er scheint zu sagen: Glaube an dich, egal was ist. Lass dich nicht zu sehr von anderen beeinflussen.

Steh zu deiner Lebens- Musik, ganz gleich, wie fremd und abartig sie anderen auch klingen mag.

Fazit
Absolut sehenswert.

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