Anno 1816

Passende Musik zum Text (Schumann) o. Mozart

Der Grippe- Kobold war ein finsterer Zeitgenosse. Schon in der Schule hatte er wenige Freunde und war recht unbeliebt.

Diesmal hatte er auf breiter Breitseite zugeschlagen: Die Nase verstopft, die Lunge gereizt, die Laune gedämpft, den Rücken verzerrt, die Schmerzen in den Nebenhöhlen ausgebreitet. Zu allem Übel kamen noch Gelenkprobleme und allgemeine Abnutzungserscheinungen dazu, eine mittelschwere Anfälligkeit für Depressionen und Manien, für unkontrollierte Gefühlsschwankungen und unangekündigte Überreaktionen.

Es war keine leichte Zeit, in der Marie ihren Tag zu leben hatte. Die beiden Kinder klebten ständig nach ihr, wollten Abwechslung, Zuneigung, Spielen und Spaß. Sie war am Rande ihrer seelischen Kräfte. Und nun sollten sie also auch noch Amerika ziehen, in das große weite Land, von dem sie schon soviel gehört hatten.

Ihr Mann war Soldat bei der Marine und er hatte die Überfahrt organisiert. Nun machte er Druck, dass alles rechtzeitig zum Auslaufen des Schiffes fertig wurde. Dies war noch zu Packen und jenes noch zu erledigen. Ihr altes Haus am malerisch gelegenen Berghang würden sie verkaufen müssen, alles war schon vorbereitet. Sie stolperte über unfertig gepackte Kisten, über Berge von Klamotten, die noch gelegt werden mussten, über Reiseplanungen und Kartenmaterial für die Siedlung. Sie würden aber nur einen Bruchteil mitnehmen können. Auch wenn sie Kapitäns-Gattin war und die größte Kajüte des Schiffes erhalten würde, so war der Raum doch sehr begrenzt.

Heute war der Tag gekommen, an dem ihr Kindermädchen endlich mal wieder gesund war und Zeit für die Familie hatte. Und auch, wenn Marie eigentlich krank war und im Bett liegen müsste, beschloss sie, ein paar Schritte runter zum Hafen zu gehen und ihrem Mann Rudolf „Hallo“ zu sagen. Zudem wollte sie ihm ein paar Brote bringen, denn erfahrungsgemäß ackerte er ununterbrochen und vergaß dabei ganz das Essen und die Pausen.

Nachdem sie in der Küche fertig war, verpackte sie den Imbiss in einen kleinen Korb und ging zur Garderobe.

Sie nahm sich ihren dunklen Mantel, denn draußen war es kühler und herbstlicher geworden. Ein eisiger Wind pfiff ihr entgegen, als sie die schwere Holztür hinter sich ins Schloss zog. Sie schaute kurz an den Himmel, aber außer der üblichen neblig-grauen Wolkendecke konnte man nichts bedrohliches entdecken. Sie atmete tief durch die Nase ein, die Luft war gut, besser als die abgestandene Luft im Inneren des alten Hauses. Sie konnte es kaum erwarten, mal ein wenig herauszukommen, sie war schon ganz blass wegen der vielen Arbeit und den ständigen Entbehrungen. Sie hatte in den letzten Wochen kaum Zeit gehabt, sich mal in die Sonne zu setzen, so wie früher, als ihr Mann noch nicht diesen Posten hatte. Dabei war es so ein schöner Spätsommer und sie wurde traurig, als sie daran dachte.

Aber jetzt war er zum Kapitän befördert worden, jetzt sollte alles ganz schnell gehen. Europa war ihm zu klein geworden, zu provinziell, wie er oft sagte. Dazu kam, dass die letzte Ernte komplett ausgefallen war, die Menschen mussten ihren Gürtel enger schnallen und Hunger und Armut breiteten sich rapide aus.

Die Zukunft läge in den neuen Kolonien, das war das Lied, dass sie jeden Tag hören musste und es schien, nichts in der Welt hielt diesen Gedanken auf.

Ihre Mutter war natürlich nicht sehr begeistert, sie hätte ihre Tochter gerne in der Nähe gehabt. Und Auswandern mit 32? Ist das nicht viel zu spät? Wie immer machte sie nur Ärger und Sorgen und half Marie nicht im Geringsten, einen Schritt weiter zu gehen. Anstatt dass sie ihr Mut machte und sie bestärkte, säte sie nur Sorgen und Bedenken und es war für die junge Frau schwer, sich ständig gegen dieses Bollwerk aus Angst durchsetzen zu müssen.

Von ihrem Vater konnte sie auch nicht viel erwarten, er von Anfang an gegen ihre Ehe gewesen. Sie kamen aus einer reichen Bildungsschicht und viele berühmte Künstler und Schriftsteller kamen aus ihrer Familie. Den Mann, den Marie sich da ausgesucht hatte, passte nicht wirklich zu dem Geist, der sonst in der Familie vorherrschte. Es war ein sehr fleißiger Mensch, ein sehr geschickter, aber auch ein kompromissloser Zeitgenosse. Seine Eltern waren Handwerker und hatten als Tuchmacher-Manufaktur einiges an Einfluss erlangt. Danach ging der junge Mann freiwillig zur Marine und machte dort schnell Karriere. Sein ständige Wille, großes zu leisten und besser als andere zu sein, trieb ihn an. Mittlerweile war er im besten Alter und sein Machthunger ungestillt. Das machte der jungen Frau manchmal Angst, aber sie wusste, dass er es nur für sie tat. Er wollte, dass sie es gut hatte, dass sie nicht so viel arbeiten müsse und sich die Kinderfrauen und Haushaltsangstelle immer leisten könnte. Auch war er dafür, dass sie sich jeglichen Luxus, der ihr beliebte, kaufen könne. Das klappte freilich nicht immer, denn für die große Reise über den Ozean war viel Geld nötig, sie würden sich alles neu aufbauen müssen.

Viele derartige Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie eilig durch die engen Gassen abwärts zum Hafen ging. Sie wickelte das Tuch enger um den Hals und verdeckte damit die Unterseite ihres Kinnes, damit die Wärme bei ihr blieb. Sie fühlte sich nicht gut, aber die frische Luft half dabei, wach zu bleiben.

Nach ca. einer halben Stunde war sie endlich unten am Kai angekommen. Hier lagen viele Schiffe, es war ein großer Hafen und es herrschte für einen Montag-Morgen übliches, geschäftiges Treiben.

Kisten wurden verladen, Menschen wuselten hin und her, Bettler verlangten nach Aufmerksamkeit, aber kaum einer beachtete sie. Sie musste kurz stehen bleiben und überlegte, wo genau die „Arielle“ denn liegen würde. Sie kannte das Schiff eigentlich nur aus regen Beschreibungen von Rudolf, ihrem Mann, aber sie selbst hatte sie noch nie gesehen.

Sie überlegte kurz, ein „Dreimaster“ hatte er gesagt, mit einer „hübschen, rothaarigen Galionsfigur“… hm und was war da noch.. am „Ende des Hafens, nicht zu übersehen“.. „wenn du kurz vorm Hafenmeister seinem Büro..“

Sie ging noch ein paar Schritt und tatsächlich, eingeklemmt zwischen zwei kleineren Schiffen, konnte man sie entdecken: Anmutig lag sie mit großen, schweren Tauen fest gezurrt, die Arielle . Sie wankte nur leicht auf und ab, die Möwen umkreisten ihren Mast und manche saßen ganz weit oben in den Segeln. Es roch nach Salzwasser, nach nassem Holz, nach Arbeit und nach Schweiß. Plötzlich entdeckte sie ihn, ihren Mann, er gab gerade Anweisungen und musterte das Klemmbrett, mit dem er wohl die Ladung kontrollierte. „Nicht hierhin, du Idiot, die Kisten mit Lebensmitteln kommen alle achtern, wie oft hab ich euch das schon gesagt?“ er schimpfte gerade mit einem Hilfsarbeiter, als er sie erblickte. Sein Blick hellte augenblicklich auf, denn er war immer noch sehr in sie verliebt.

„Marie? Was machst du hier? Wolltest du heute nicht im Bett liegen bleiben?“

„Du freust dich ja gar nicht!“ entgegnete Marie etwas enttäuscht. „Ich hab dir ein paar Brote mitgebracht! Das ist ja ein tolles Schiff!“

„Sie ist nicht schlecht, was? Schau sie dir genau an. Soll ich dich ein wenig herumführen?“

„Ja gerne..“

Marie raffte ihren Rock ein wenig nach oben, kletterte vorsichtig die engen Bretter hinauf, die man zum Schiff ausgelegt hatte und hielt sich ängstlich am Geländer fest. Nach unten schauen mag ich gar nicht, dachte sie nur kurz, überwand die paar Meter aber schnell.

„Da bist du ja.“ Er drückte sie kurz, behielt aber die Fassung, weil er vor seinen Männern keinen schlechten Eindruck machen wollte. „Was hast du denn da Feines?“ und blickte kurz in den mitgebrachten Korb. „Salamibrote und ein paar Äpfel, ganz wie befohlen, Käpt´n!“ sagte sie und lachte.

„Das ist schön, vielen Dank“ .. „komm!“ und streckte die Hand nach ihrer aus.

Er führte sie auf dem Schiff herum: Marie wurde es warm ums Herz und sie verlor an diesem Tag ihre Bedenken, die sie die ganze Zeit gegen diese Reise gehabt hatte. Neben ihrem Mann fühlte sie sich sicher und geborgen, die ganze Zuversicht strahlte auf sie zurück, sie fasste neuen Mut.

Sie freute sich jetzt auf das neue Land.

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